23. Oktober 2019 | Position
Langfassung zu diesem Dokument
In einem Offenen Brief haben 23 Verbände der Agrar- und Ernährungswirtschaft die deutsche Politik aufgefordert, das veraltete EU-Gentechnikrecht an den Stand der Wissenschaft anzupassen und damit Rechtssicherheit im Agrarhandel zu gewährleisten.
„Sehr geehrte Damen und Herren,
das Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) in der Rechtssache C-528/16 vom 25. Juli 2018 zur Anwendung gezielter Mutagenese mit Hilfe der Neuen Züchtungsmethoden hat die gesamte Agrar- und Ernährungswirtschaft in große Sorge versetzt. Damit werden unter anderem alle Pflanzen, die mit Verfahren der gezielten Mutagenese wie CRISPR/Cas9 erzeugt wurden, pauschal als gentechnisch veränderte Organismen (GVO) eingestuft und auch deren Verarbeitungsprodukte einer Kennzeichnung nach Gentechnikrecht unterworfen. Die Einstufung macht die Anwendung der Neuen Züchtungsmethoden in der EU und in Deutschland praktisch unmöglich und steht einer vorteilhaften Nutzung der Methoden für Biodiversität, Nachhaltigkeit und Landwirtschaft im Weg!
Darum ist das Urteil so problematisch:
- Es basiert auf einem Gesetz aus dem Jahr 2001, dessen wissenschaftliche Grundlage wiederum aus den 1980er Jahren stammt und welches bisher ausschließlich auf die Regulierung der klassischen Gentechnik (Einbringung artfremder DNA in Organismen) ausgerichtet war. Der EuGH hat auf dieser Basis über Neue Züchtungsmethoden geurteilt, ohne aktuelle naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen
- Gentechnisch veränderte, transgene Pflanzen (d. h. Pflanzen mit artfremder DNA) und daraus gewonnene Erzeugnisse lassen sich gut nachweisen. Hierdurch können die gesetzlich vorgeschriebene Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung gewährleistet werden. Bei der Anwendung der Neuen Züchtungsmethoden wird in den meisten Fällen keine neue, artfremde DNA eingebracht, sondern es werden Punktmutationen in der bestehenden Erbinformation vorgenommen, die auch in der Natur ohne menschlichen Eingriff vorkommen können. Es lässt sich somit nicht unterscheiden bzw. nachweisen, ob eine vorliegende Mutation spontan in der Natur entstanden ist, durch konventionelle Mutagenese (mittels Strahlung oder Chemikalien) oder durch gezielte Mutagenese, d. h. Neue Züchtungsmethoden, herbeigeführt wurde. Dieser Sachverhalt wurde auch im Bericht des Europäischen Netzes der GVO-Laboratorien (The European Network of GMO Laboratories/ENGL) vom 26. März 2019 wissenschaftlich belegt.(1)
Die Neuen Züchtungsmethoden bieten Chancen, die Folgen des Klimawandels abzumildern sowie die Nachhaltigkeit und die Biodiversität in der Landwirtschaft zu fördern:
- Um Ernteausfälle infolge des Klimawandels zu minimieren und Agrarsysteme weniger anfällig gegen immer stärker schwankende Anbaubedingungen zu machen, müssen Nutzpflanzen widerstandsfähiger gegen Wassermangel bzw. Überschwemmungen, Versalzung, Hitze/Kälte, Krankheiten und Schädlinge sein. Darüber hinaus sollen sie eine verbesserte Nährstoffeffizienz aufweisen. Diese Herausforderungen machen Innovationen in der Pflanzenzüchtung notwendig. Die Neuen Züchtungsmethoden besitzen das realistische Potenzial, innerhalb relativ kurzer Zeit zur Lösung solcher Herausforderungen beizutragen.
- Darüber hinaus können die Neuen Züchtungsmethoden die bestehende natürliche genetische Vielfalt erweitern und diese Variation für eine noch größere Sortenvielfalt bereitstellen.
- Hiermit wird auch die Chance für eine nachhaltigere Landbewirtschaftung und einen effizienteren Einsatz von Dünge- sowie Pflanzenschutzmitteln eröffnet.
- Die Neuen Züchtungsmethoden bieten außerdem die Möglichkeit, Sorten für ein besseres Angebot an nachwachsenden pflanzlichen Rohstoffen und damit biobasierten Ressourcen für die industrielle Produktion im Rahmen einer Bioökonomie bereitzustellen. Dies unterstützt den Wandel von einer weitgehend auf fossilen Rohstoffen basierenden Wirtschaft zu einer stärker auf erneuerbaren Rohstoffen beruhenden Wirtschaft. Damit kann ein Beitrag zu den UN-Klimaschutzzielen geleistet werden.
Mit dem EuGH-Urteil bleibt das Potenzial der Neuen Züchtungsmethoden weitgehend ungenutzt. Mehr noch – es ist mit weiteren unerwünschten Konsequenzen zu rechnen:
- Qualifizierte Wissenschaftler/innen werden in Länder abwandern, in denen sie aktiv zu Innovationen beitragen können. In der Folge werden sich Deutschland und die EU von der internationalen Entwicklung immer weiter abkoppeln. Somit stehen die Wettbewerbsfähigkeit der (Agrar-)Wirtschafts- und Wissenschaftsstandorte Deutschland und der EU auf dem Spiel.
- In den meisten Drittstaaten sind Pflanzen aus gezielter Mutagenese mittels Neuer Züchtungsmethoden nicht als gentechnisch veränderte Organismen (GVO) reguliert. Damit die internationalen Handelsströme weiterhin funktionieren und dieVersorgungsmärkte nicht gefährdet werden, müssen die Bestimmungen zu agrarischen Rohstoffen verschiedener Weltregionen miteinander kompatibel sein. Im Handel und in der Logistik mit Massenschüttgütern (Commodity-Handel) wie Weizen, Raps, Mais, Soja wird die Ware vieler Anbaufelder bereits in den Ursprungsländern jeweils vermengt. Deshalb ist schon heute nicht nachvollziehbar, bei welchen Produkten in und aus Drittstaaten die Neuen Züchtungsmethoden zum Einsatz gekommen sind. In den nächsten Jahren wird sich diese Situation weiter verschärfen.
Weder Handel noch Überwachungsbehörden können den Forderungen aus dem geltenden Gentechnikrecht nachkommen, weil, wie eingangs ausgeführt, eine rechtssichere Identifizierung der Mutationsursache nicht möglich ist und die skizzierte Commodity-Logistik eine Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung per se ausschließt. Das EuGH-Urteil ist somit nicht umsetzbar. Hier besteht dringend politischer Handlungsbedarf: Ansonsten sind Importe von Agrarrohstoffen und deren Verarbeitungsprodukten in die EU und nach Deutschland und somit auch die Lebens- und Futtermittelversorgung hierzulande insgesamt gefährdet.
Aus den genannten Gründen hat sich eine Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten am 14. Mai 2019 beim Agrarrat dafür ausgesprochen, dass die neue Europäische Kommission das veraltete und nicht umsetzbare Gentechnikrecht überprüfen und an den Stand von Wissenschaft und Technik anpassen soll. Vor dem skizzierten Hintergrund fordern wir von der deutschen und europäischen Politik:
- Das europäische Gentechnikrecht muss zeitnah an den wissenschaftlichen Erkenntnisstand angepasst werden und für neue Entwicklungen offen sein. Dabei muss die Expertise der zahlreichen unabhängigen deutschen und europäischen Fachbehörden (2) miteinbezogen werden. Diese folgerten schon vor dem EuGH-Urteil, dass die bestehende europäische Begriffsbestimmung von GVO auf die meisten Pflanzen aus gezielter Mutagenese mittels Neuer Züchtungsmethoden nicht zutrifft und dass die Mehrheit solcher Pflanzen rechtlich wie solche zu behandeln sind, die durch konventionelle Züchtungsmethoden entstanden sind.
- Der zukünftige europäische Gesetzesrahmen muss den weltweiten Handel mit agrarischen Rohstoffen und Verarbeitungsprodukten rechtssicher gewährleisten.
- Ein sachlicher und ergebnisoffener politischer und gesellschaftlicher Diskurs über die Anwendung bzw. Nicht-Anwendung der neuen Züchtungsmethoden muss gefördert werden. Gemeinsam mit der Wissenschaft und der Politik sind wir bereit, uns einem sachlichen und faktenbasierten gesellschaftlichem Diskurs zu stellen.
Wir als Wirtschaftsvertreter verfolgen und analysieren Vorschläge zur Anpassung des europäischen Gentechnikrechts aus Wissenschaft und Gesellschaft intensiv. Wir sind gern bereit, unsere Bewertung hinsichtlich notwendiger Schritte in Richtung einer Modernisierung des Gentechnikrechts an den aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik in einem sachlichen Austausch mit Ihnen zu vertiefen."
(1) Der Bericht ist unter diesem Link abrufbar: http://gmo-crl.jrc.ec.europa.eu/doc/JRC116289-GE-report-ENGL.pdf
(2) Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (2012), Fachbehörden des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (2017), Scientific Advice Mechanism (SAM), Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), Joint Research Centre (ein wissenschaftliches Beratergremium der EU-Kommission), Expertengruppe der Mitgliedstaaten (2012), Generalanwalt Michal Bobek (18. Januar 2018)
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