02. November 2022
Was befördert, was behindert die Transformation der chemisch-pharmazeutischen Industrie? Daumen hoch oder Daumen runter – informieren Sie sich anhand einer interaktiven Grafik. Sobald Sie einen der beiden Daumen anklicken, öffnen sich weitere Grafikelemente, denen Sie die Pros und Cons des Green Deals aus Sicht unserer Branche entnehmen können.
Der EU Green Deal wurde von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Dezember 2019 ausdrücklich als Wachstumsstrategie für die EU vorgestellt, die zugleich den Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft hin zu mehr Nachhaltigkeit erreichen soll.
Doch schon Anfang 2020 führten die Corona-Pandemie und Februar 2022 der russische Angriffskrieg auf die Ukraine die Debatten der Mitgliedstaaten der EU weg von den langfristigen Transformations- und Nachhaltigkeits-Zielen des Green Deals. Energiesicherheit, bezahlbare Strompreise für Bürger und Unternehmen sowie mehr Resilienz für den Wirtschafts- und Industriestandort EU gewannen an Bedeutung. Die Kommission hielt unterdessen unbeirrt am Green Deal fest und änderte ihre Prioritäten vorerst nicht.
Wir haben aus Sicht der chemisch-pharmazeutischen Industrie eine Auswahl und Bewertung der wichtigsten Maßnahmen des Green Deal vorgenommen und danach unterschieden, ob sie die Transformation eher beschleunigen oder behindern. Die Bewertung bezieht sich auf die ersten zweieinhalb Jahre “Green Deal” von Dezember 2019 bis Juni 2022. Manche Maßnahmen verfolgen ein wichtiges Ziel. Jedoch ist ihre konkrete Ausgestaltung unklar oder lässt eine problematische Umsetzung erwarten. Auch sind die Maßnahmen zur Halbzeit unterschiedlich weit in ihrer Umsetzung fortgeschritten: Manche wurden bislang nur von der Kommission angekündigt. Andere befanden sich bereits im Gesetzgebungsprozess oder in der regulatorischen Umsetzung.
Fazit und Forderungen
Die Kommission hat in den ersten zweieinhalb Jahren des Green Deals ein hohes Tempo vorgelegt und ihren Transformationskurs unbeirrt weiterverfolgt. Knapp die Hälfte der legislativen Vorschläge des Green Deal (61 von insgesamt 130) stehen noch aus. Allerdings haben sich die ambitionierten Zeitpläne mehrmals verschoben, zum Beispiel im Bereich der Chemikalienstrategie für mehr Nachhaltigkeit. Fortschritte hat es insbesondere im Bereich Klima und Energie, Forschung (Horizon), Kreislaufwirtschaft und Industrie (Industriestrategie) gegeben.
Ein großes Manko mit Blick auf die Governance des Green Deal besteht darin, dass die institutionellen Mandate und das Selbstverständnis der Generaldirektionen nicht ausreichend verändert wurden, um einer koordinierten Umsetzung des EGD in allen Generaldirektionen höchste Priorität einzuräumen. Dies hat zu (internen) Zielkonflikten und Doppelregulierung geführt. Auch gelingt es der EU-Kommission derzeit nicht, die angestrebte internationale Führungsrolle einzunehmen. Die internationale Ebene der Green-Deal-Maßnahmen wird nicht ausreichend mitgedacht. Das heißt, unilaterale Maßnahmen treten anstelle bilateraler oder multilateraler Lösungen, etwa bei CBAM (Carbon Border Adjustment Mechanism) oder dem Lieferkettengesetz. Angesichts sehr ambitionierter Ziele fehlt es an Lösungen für praktikable Übergangszeiträume, insbesondere im Bereich sichere Energieversorgung und Chemikalienregulierung. Auch bleibt die Kommission hinter ihren eigenen Ansprüchen an bessere Rechtsetzung (Better Regulation) zurück. Im Bereich CSS fehlt zum Beispiel ein übergreifendes Impact Assessment. Anstatt innovationsfreundliche und pragmatische Anreize für die Transformation der Industrie zu setzen, versucht die EU-Kommission mit überambitionierten Zielen und Detailsteuerung die Industrie auf Ihren Kurs zu bringen. Bürokratieaufbau und Rechtsunsicherheit schaffen kein geeignetes Klima für mutige Zukunftsinvestitionen.
Nun verschiebt die Zeitenwende, die durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ausgelöst wurde, erneut die politischen Prioritäten. Davon bleibt auch der Green Deal nicht unberührt. Angesichts der ausbleibenden russischen Gaslieferungen seit September 2022 geht es nun auch darum, die Existenz des Industriestandorts Europa zu sichern. Denn angesichts der Gasmangellage reißen Lieferketten und die License to operate der Chemie und die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie insgesamt sind bedroht. Langfristig notwendige Zukunftsinvestitionen werden aufgrund der hohen Energiepreise nicht getätigt. Durch die anhaltend hohen Energiepreise gerät die Kommission mit ihren Transformationsvorhaben jedoch stark unter Druck, da das Wachstumsversprechen angesichts der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit durch hohe Energiepreise und Überregulierung nicht eingelöst werden kann. Jetzt kommt es darauf an, den Binnenmarkt und den Industriestandort EU zu stärken, um in Zukunft Innovationen in Europa zu entwickeln und eine leistungsfähige, nachhaltige Infrastruktur zu erhalten und auszubauen. Dabei müssen die Kernelemente des Green Deal einem Zukunftscheck unterzogen werden. Manches Vorhaben muss beschleunigt werden (z. B der Ausbau erneuerbarer Energien), anderes neu bewertet beziehungsweise entschleunigt werden (z. B. die Einführung der CO2-Grenzausgleichsmaßnahmen unter Einbezug der Chemie oder die Industrieemissionsrichtlinie (IED)).
Wir fordern im Einzelnen:
- Energiesicherheit stärken und Wettbewerbsfähigkeit der Industrie durch bezahlbare Strompreise sicherstellen
- Impact Assessments sorgfältig und im Vorfeld der Maßnahmen durchführen
- ausreichende Übergangszeiträume mit den betroffenen Stakeholdern vereinbaren
- Durchsetzung bestehender Regulierungen verbessern
- Better Regulation konsequent anwenden
- Innovationen technologieoffen ermöglichen und Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigen
- Planungs- und Investitionssicherheit gewährleisten
- Einbindung in internationale Netz- und Regelwerke stärker beachten, um Level-Playing-Field zu wahren und nachhaltige Lösungen zu finden
Bei weitergehenden Fragen zu den einzelnen Themen wenden Sie sich gerne an die VCI-Ansprechpersonen .
Katharina Mayer
Europapolitik in Deutschland, EU Green Deal, Wahlkreisarbeit, Nachhaltigkeit
- E-Mail: mayer@vci.de